Cogitaris unterstützt seit 2021 Armut und Gesundheit bei der Verwaltung und anonymisierten Weiterverarbeitung der Patientenbefragungen. In unserem Interview sprechen wir mit Prof. Dr. Gerhard Trabert über den Verein Armut & Gesundheit und über die bisherigen Erkenntnisse, die im Rahmen der Datenverarbeitung gewonnen wurden.
Vorab möchten wir gerne mehr über Armut + Gesundheit erfahren, also beispielsweise Gründungsdatum, Gründer, Anzahl Mitarbeiter*innen, Anzahl freiwillige Helfer*innen, Standorte, Arztmobil.
Prof. Dr. Gerhard Trabert: a+G wurde 1997 von 7 Personen gegründet, die in Mainz und darüber hinaus die gesundheitliche Versorgung von Menschen am Rand unserer Gesellschaft verbessern wollten. Gisela Bill und ich waren Gründungsmitglieder und sind beide noch aktiv im Verein, der inzwischen 30 angestellte und fast 60 ehrenamtliche Mitarbeitende sowie über 600 Mitglieder umfasst. Zunächst startete der Verein mit einem Arztmobil, einem fahrenden Sprechzimmer, ganz nach dem Motto „Wenn der Patient nicht zum Arzt kommt, kommt der Arzt zum Patienten!“. Diese aufsuchende medizinische Versorgung war damals in Deutschland einzigartig und wird deshalb „Mainzer Modell“ genannt.
Weil bald deutlich wurde, dass auch unzählige Menschen, die selbst nicht wohnungslos waren, durch Lücken im Gesundheitssystem nicht ausreichend versorgt werden, entschied der Verein, eine Poliklinik mit dem Namen „medizinische Ambulanz ohne Grenzen“ zu eröffnen, wo alle Menschen, die nicht oder nur unzureichend krankenversichert sind, kostenfrei behandelt werden können. Diese befindet sich auf der Zitadelle in Mainz und umfasst inzwischen auch eine Sozialberatung und die Clearingstelle Krankenversicherung RLP.
Wie ist die Zusammenarbeit mit Cogitaris entstanden?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Aydin Nasseri von Cogitaris war auf unsere Arbeit aufmerksam geworden und hat angefragt, wie er uns wissenschaftlich über Studien unterstützen kann. Dieses Angebot haben wir gerne angenommen.
Welche Daten werden derzeit erhoben und wofür werden diese benötigt?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Wir erheben die anonymisierten Daten der Patient*innen in unserer Poliklinik, also beispielsweise welche Symptome oder Erkrankungen die Personen haben, wie ihre Krankenversicherungssituation ist, ihre Sprachkenntnisse, ihr Wohnort, usw. Die Auswertung dessen hilft uns einerseits dabei, unsere Angebote zu verbessern, aber andererseits auch verifizierte Fakten zu schaffen, um im politischen Kontext klarere Forderungen stellen zu können.
Gab es im Zuge der letzten Ergebnispräsentation unerwartete oder überraschende Erkenntnisse? Wenn ja, welche und warum?
Prof. Dr. Gerhard Trabert:Die Ergebnisse haben im Wesentlichen das bestätigt, was wir bereits vermuteten.
Aber es war für uns auch sehr hilfreich, alle Daten der Auswertung zu reflektieren und zu sehen, wie viel wir arbeiten 😊, wie viele unterschiedliche Nationalitäten zu uns kommen, welche Krankheitsbilder wir hauptsächlich behandeln, wie viele Menschen mehrfach zu uns kommen usw.
Wir haben aber auch an einigen Stellen bemerkt, wie wir die Datenerhebung noch konkretisieren müssen, um daraus überhaupt Erkenntnisse generieren zu können, oder dass es interessant und hilfreich wäre, auch Daten der Klient*innen unserer Sozialberatung mit einfließen zu lassen.
Wäre es generell sinnvoll, ein Datenverarbeitungssystem für alle derartigen Initiativen und Vereine in Deutschland zu etablieren?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Ja, das wäre sehr sinnvoll, denn man kann damit die Basis und die wissenschaftlich fundiert evaluierte Expertise zu den Bedarfen und den Behandlungsnotwendigkeiten kommunizieren. Empirie ist wichtig, die Datenerhebung hilft immens bei der Forderung nach strukturellen Verbesserungen und Veränderungen. Je großflächiger hier wissenschaftlich gearbeitet wird, desto klarer wird das Bild.
Welche Ziele verfolgt Ihr Verein Armut + Gesundheit für das Jahr 2023?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Eigentlich lautet das oberste Ziel von a+G, dass wir uns abschaffen wollen. Denn es darf eigentlich nicht die Aufgabe von Privatpersonen, Ehrenamtlichen und Vereinen sein, die strukturellen Schwachstellen im Gesundheits- und Sozialsystem Deutschlands auszugleichen.
Doch da sich dieses Ziel leider immer weiter entfernt, wünschen wir uns erstmal ein „Weiter so!“. Wir hoffen, dass unsere Projekte – das „Mainzer Modell“, unsere „medizinische Ambulanz ohne Grenzen“ inklusive der Sozialberatung und der Clearingstelle Krankenversicherung, unsere Kinderprojekte „Street Jumper“ und das „Snoezelen“ so erfolgreich weiterlaufen werden wie bisher.
Durch unsere im Dezember 2022 gestartete Energiebonus-Spendenaktion „Solidarität wärmt“ hoffen wir, die Auswirkungen der deutlich erhöhten Energiekosten für sozial benachteiligte Menschen etwas abfedern zu können. Wir planen, Wohnraum zu kaufen, eventuell eine Hausimmobilie, damit wir Menschen schneller in eine Wohnung vermitteln können. Durch Spenden konnten wir zu Beginn des Jahres 2023 einen Behandlungsfonds starten, aus dem wir auch solche Behandlungen finanzieren können, die außerhalb unserer medizinischen Ambulanz stattfinden müssen, also z. B. Operationen. Dies machen wir vor allem, um zu dokumentieren, welch großer Bedarf besteht, um Menschen, die keine Versicherung haben, adäquat medizinisch versorgen zu können. Mit den Auswertungsdaten wollen wir dann politisch Verantwortliche dazu veranlassen, einen landesbezogenen Behandlungsfonds einzuführen.
Außerdem wollen wir unsere Auslandsprojekte weiterführen und ausbauen – speziell unsere Ukraineprojekte, unsere diabetische Ambulanz in Kobanê, die Versorgung von geflüchteten Menschen mit körperlichen Behinderungen auf Lesbos sowie unser Gesundheitsversorgungsprojekt für Straßenkinder in Kisumu, Kenia. Neu aufbauen wollen wir ein Projekt in Afféry an der Elfenbeinküste, wo wir mit einem lokalen Verein zusammenarbeiten, um Armut und Krankheit vor Ort zu reduzieren.